S. Heusinger u.a. (Hrsg.): Die materielle Kultur der Stadt

Cover
Titel
Die materielle Kultur der Stadt in Spätmittelalter und früher Neuzeit.


Herausgeber
Heusinger, Sabine von; Wittekind, Susanne
Reihe
Städteforschung Reihe A: Darstellungen 100
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Beutmann, Referat Ausstellungen, smac – Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz

Der zu besprechende Band besteht aus Beiträgen eines im März 2017 in Münster am Institut für vergleichende Städtegeschichte abgehaltenen Forschungskolloquiums. Um es vorwegzunehmen: Der Band stellt in seiner Gesamtheit, unbenommen der zweifellos relevanten Einzelbeiträge, für den wissenschaftlich vor allem in der Stadtarchäologie beheimaten Rezensenten ein ausgesprochenes Ärgernis dar.

Zu Beginn stellen die Herausgeberinnen in ihrer Einführung fest: „Der ‚material turn‘ ist inzwischen auch in der Stadtgeschichtsforschung angelangt …“. Neu sei daran insbesondere „die Hinwendung zum Artefakt samt seinen Entstehungs- und Nutzungsbedingungen.“ Für Historiker/innen sei diese Hinwendung „immer noch gewöhnungsbedürftig“, da sie „den Umgang mit Realien gerne den vormals sogenannten ‚Hilfswissenschaften‘ überließen“. Hingegen hätten sich andere Disziplinen wie Ethnologie und Archäologie „schon immer primär mit Materiellem beschäftigt“ (S. 11), täten sich dabei aber häufig schwer mit der historischen Kontextualisierung oder vermieden sie ganz. In einer Fußnote wird gar Hans-Peter Hahn zitiert, der „die Dinge des Alltags, die oft übersehen werden, die geringen Dinge“ stärker im Blickpunkt sehen möchte (S. 12). Spätestens an dieser Stelle hätte ich einen Blick zur Stadtarchäologie erwartet, und sei es nur auf Heiko Steuers auch nicht mehr ganz neuen Aufsatz in einem der Bände derselben Reihe1 oder auf einen Züricher Tagungsband.2

Wenn die Herausgeberinnen sich stattdessen lieber theoretischen Überlegungen zur Bedeutungszuschreibung an oder gar Handlungsmacht von materiellen Objekten zuwenden, was als solches sicher richtig und wichtig ist, dann offenbart sich hier aber eben doch ein großer und, wie ich meine, problematischer blinder Fleck in ihrer Wahrnehmung. Wirklich ratlos hinterlässt mich dann der Satz „Der ‚material turn‘ bietet zudem die Möglichkeit der Erforschung von historischen Gesellschaften, die kein oder nur ein eingeschränktes Schriftgedächtnis hinterlassen haben“ (S. 13) – als wenn es vor dem material turn keine Archäologien gegeben habe. Nicht wirklich klar ist dann, was mit der Forderung nach „historische[r] Kontextualisierung in die vormoderne Gesellschaft“ mit Bezug auf die Objekte gemeint ist (S. 14). Polemisch gesagt und um es mir einfach zu machen: Ist nicht schon ein Ausgrabungskontext ein historischer Kontext? Oder bedarf es der Anbindung an Schriftquellen, damit es „historisch“ wird?

Einen anspruchsvollen Titel überschreibt auch Julia A. Schmidt-Funke ihrem durchaus lesenswerten Text: Die Stadt von den Dingen her Denken. Zur Materialität des Urbanen. Es geht ihr vor allem um „eher kleinere, bewegliche Objekte, die mit dem Begriff des Dings assoziiert werden“ (S. 19). Untersucht werden soll insbesondere die Frage der „Existenz spezifisch städtischer Dingkulturen“ (S. 21), vor allem unter der plausiblen Hypothese einer „vom Land abweichend[n] Dingverfügbarkeit“ (S. 22). Eher kritisch äußert sich die Autorin zu theoretischen Perspektiven, die den Dingen eine eigene Handlungsmacht einräumen wollen. Dass die Materialität der Dinge aber sehr wohl bestimmte Gebrauchsweisen nahelege, andere eher nicht, ist eine für den Archäologen leicht anschlussfähige Beobachtung. Schmidt-Funke nennt als Beispiel die Kleidung und Waffen städtischer Oberschichten, wie sie in bildlichen Darstellungen, aber auch Kleiderordnungen, manifestiert sind und als Mittel der Distinktion dienten. Der Gebrauch der Waffen wiederum setze Übung voraus, was eine ganze Reihe Praktiken nach sich zog, die zu erforschen lohne. Ein anderer Aspekt ist die unterschiedliche Verteilung der Dinge in der Stadt, die unter anderem zu Eigentumsdelikten geführt habe, gegen die die Besitzenden sich mit Schlössern zu schützen versuchten. Hier könnten archäologische Quellen ins Spiel kommen, denn Schlüssel zählen zu den häufigeren Metallfunden in Städten (was sicher auch in der offenbar zeitlosen Praxis des Verlierens begründet ist) und sogar Schlösser (meist Vorhängeschlösser) finden sich immer wieder. Bemerkenswert sind auch Schmidt-Funkes Äußerungen über das Anlegen von Sammlungen, das demnach im ausgehenden Mittelalter als städtische und nicht etwa als höfische Praxis begann. Im Gegensatz zu höfischen Sammlungen hätten die bürgerlichen allerdings selten als solche überlebt, sondern wurden aufgelöst oder gingen in höfische oder öffentliche Sammlungen ein: „Die dingliche Überlieferung ist, insofern sie überhaupt noch vorhanden ist, nicht selten außerhalb ihres städtischen Entstehungsorts zu suchen, …“ (S. 38). Dies ist die Perspektive der Museumsfrau, denn wer gräbt, findet eine sehr umfangreiche dingliche Überlieferung am Entstehungs-, Nutzungs- und Entsorgungsort.

Die im Band enthaltenen Einzelartikel beschäftigen sich mit Fallstudien. Nicht immer ist ganz klar, was die speziell objektbezogene Herangehensweise ausmacht, manches ist doch recht traditionell kunstgeschichtlich. Ein wiederkehrender Aspekt ist die Verortung und Sichtbarkeit eines Objektes für seine Bedeutung. Zwei für mich aufschlussreiche Artikel will ich kurz herausgreifen:

Objekte bei städtischen Eidesleistungen im Spätmittelalter sind das Thema Olivier Richards. Er zeigt vor allem für das Oberrheingebiet, wie sakrale Objekte (Reliquien, Evangeliare) zumindest teilweise von profanen Objekten (Rechtsbücher, Schwörbriefe) als Eideshilfsmittel abgelöst werden. Sie alle dienen in unterschiedlich gestalteten Schwörritualen dazu, Vertrauen zwischen den Partizipanten herzustellen, im ersteren Fall durch eine Art göttliche Garantie, im zweiten durch Rekursion auf den vertraglichen Charakter der Eidgenossenschaft. Die für Basel bezeugte Verteilung von Birnen oder Äpfeln am Rande eines Eidesrituals an die Kinder der Stadt sei schließlich als Versuch zu werten, das Ritual mit positiven Emotionen aufzuladen.

Regula Schmid schreibt über Der Harnisch im Haushalt – Waffen als Indikatoren und als Triebkräfte sozialen Wandels in der mittelalterlichen Stadt. In Schmids Untersuchungsgebiet, der Schweiz, haben sich aus verschiedenen Städten eine ganze Anzahl von Überlieferungen des 14. und 15. Jahrhunderts erhalten, die entweder als Musterungslisten des im bürgerlichen Besitz befindlichen tatsächlichen Bestandes anzusprechen sind, oder normativ vorschreiben, was die einzelnen Bürger vorzuhalten haben, bzw. die Diskrepanz zwischen beidem aufführen. Reiche Bürger/innen hatten dabei oft mehrere Rüstungen zu stellen, die dann zur Ausrüstung ärmerer Bürger/innen dienten. Auch war es nicht unüblich, dass Knechte die Wehrpflicht für Wohlhabende übernahmen. Eigentum und Nutzung von Waffen waren also teils unterschiedlichen Personenkreisen vorbehalten. Für Winterthur gibt es eine Quelle, die einen Vergleich vor und nach einer verlorenen Schlacht im Jahr 1405 ermöglicht und so den Verlust an zur Verfügung stehenden Männern und Waffen zeigt. Doch selbst bei den hier behandelten Sachen darf bezweifelt werden, dass es sich nach mittelalterlichen Maßstäben um „geringe Dinge“ handelte, obwohl einige der erwähnten Harnische in offenkundig besorgniserregendem Zustand waren.

Sämtliche Autor/innen des Bandes sind Historiker/innen oder Kunsthistoriker/innen. Es steht natürlich jeder (Sub)Disziplin frei, ihre eigene Sicht auf ein historisches Themengebiet auch ohne Einholung fachfremder Standpunkten zu bestimmen. Doch dann hätte es einer entsprechenden Einführung bedurft, die diese perspektivische Einschränkung zumindest benennt und vielleicht begründet. Die Frage beispielsweise, für welche zeitgenössischen Gruppen die hier behandelten Fragen relevant waren (historische Kontextualisierung!), scheint allenfalls mittelbar durch. Die Missachtung archäologischer Quellen (und archäologischer Interpretationen) steht m.E. im starken Gegensatz zu dem wiederholt in den Texten des Bandes beschworenen Geist des material turn, die Dinge selbst ernst zu nehmen. Die Erforschung der materiellen Kultur der spätmittelalterlichen Stadt wirkt – plakativ gesagt – ohne einen Blick in die Latrine eben doch etwas abgehoben. Man stelle sich einen Sammelband zur vormodernen Schriftlichkeit vor, der ausschließlich von Archäologen bestritten wird und Archive nicht einmal erwähnt.

Nun mag die mittelalterarchäologische Literatur vielen Schriftquellen- und Kunsthistoriker/innen schwer zugänglich erscheinen und dies sollte durchaus Anlass zur Selbstkritik der Archäolog/innen sein. Aber inter- oder transdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert eben auch ein Einlassen auf die Methodik und quellenkritischen Notwendigkeiten der jeweils anderen Disziplin. Ein größeres Hindernis in der fachübergreifenden Zusammenarbeit scheinen mir im Übrigen die oft sehr unterschiedlichen Fragestellungen, die eben doch, trotz aller postulierten „turns“, sehr stark deduktiv aus den jeweils eigenen Quellen entwickelt werden. Dieser Vorwurf trifft freilich alle Disziplinen gleichermaßen. Die Schwierigkeit, dass die Archäologie zwar die Dinge unmittelbar überliefert, nicht aber die damit verbundenen Praktiken und Bedeutungen, könnte jedoch in der transdisziplinären Zusammenarbeit verstärkt angegangen werden. Und zweifellos würde es helfen, wenn vorhandene, von Archäolog/innen erarbeitete Thesen zu sozialen Praktiken und Bedeutungen von den Nachbarfächern rezipiert und gern auch kritisiert würden.

Der material turn, wenn er denn jemals mehr war als wissenschaftsstrategisches Wunschdenken, böte jedenfalls die Chance, enger in den fachübergreifenden Austausch zu kommen, weil damit als zusätzliche gemeinsame Quellengruppe die ausgegrabenen materiellen Hinterlassenschaften zum Gesprächsgegenstand werden könnten. Ich hoffe, dass die Artikulation meines durchaus subjektiven Ärgers Anstoß in diese Richtung gibt.

Anmerkungen:
1 Heiko Steuer, Überlegungen zum Stadtbegriff aus der Sicht der Archäologie des Mittelalters, in: Peter Johanek / Franz-Joseph Post (Hrsg.), Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff, Städteforschung A 61, Köln u.a. 2004, S, 31–51.
2 Armand Baeriswyl u.a. (Hrsg.), Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archäologie und Geschichte im Dialog, Basel 2009.

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